40.5705851326491, 16.757096484719586
⇄ Gegen das Verschwinden
per la mia nonna
per il mio papà
Questa è la storia
Di uno di noi
Anche lui nato per caso in via Gluck
In una casa, fuori città
Gente tranquilla, che lavorava
Là dove c'era l'erba ora c'è
Una città
E quella casa in mezzo al verde ormai
Dove sarà*
I: Auf bewegten Spuren ↓ le radici della mia famiglia
2020▸ Ginosa, Apulien: Es sind Sommerferien und ich schwitze im Haus meiner Großeltern in einem kleinen Ort in Süditalien bei 40℃. Die Hitze flimmert auf dem Flachdach und ich stöbere ein wenig durch die leeren Zimmer des Hauses. In einer staubigen Kiste, irgendwo zwischen vergoldetem Porzellan und selbstgemachter Passata, finde ich alte Super 8 Kassetten meines Nonno. Filmino del Mare steht seitlich auf der einen Hülle geschrieben, Urlaub 78 auf der anderen. In einer Ecke steht ein alter Projektor und ich tauche ab in alte Zeiten.
Einige Personen stehen mit Schaufeln vor einem Schutthaufen, daneben eine Betonmischmaschine. Sie zeigen auf einen Rohbau und lachen. ☲ Die Familie sitzt im Auto und fährt nach Ginosa Marina, der Sandstrand ist kaum zu sehen vor lauter Sonnenschirmen. Akrobatik im Wasser, einige Handstände und Tretbootabenteuer. ☵ Mehrere Makkaronis stehen vor einem Auto und lachen in die Kamera. ☷ Ein kleiner Hund läuft auf meinen Onkel zu. ☱ Die Silberhochzeit meiner Großeltern, es gibt Berge an Essen, Wein und unverständlicher Rituale mit gehäkelten Puppen. Heile Welt? Non lo so. ☱ Zwei Jungen spielen Scopa. Nonna kocht für alle. Pasta. Natürlich. ☴ Wieder Ginosa. Diesmal ist das Haus fertig. Es wird gefeiert, getanzt. Eine Melone geht herum und natürlich Café. La zia steht im Türrahmen und schaut zu. ☳ Mein Onkel trinkt als kleiner Junge aus einem Brunnen. ☶ Eine Masseria, dort eine Katze, ein Hund, wieder Melone und ein Huhn. Nonna hebt die Melone über den Kopf. Alle essen.
Ich kenne diese Orte. Sie lachen mich an aus einer nicht allzu fernen Vergangenheit. Vertraut und doch sehr fremd.
eintausendsiebenhundertvierundsiebzig
Kilometer legte mein Nonno Nicola zurück, als er 1961 seine Heimat Apulien verließ und in eine ungewisse Zukunft aufbrach. Als Garten- und Landschaftsbauer in Solingen Ohlig half er beim Wiederaufbau des kriegszerstörten Deutschlands. Wenige Jahre später folgten meine Nonna, mein Papa und sein Bruder. Mein Nonno arbeitete zu dem Zeitpunkt bereits bei Ford in Köln. Für mich ist heute kaum vorstellbar, wie viel Kraft ein solcher Schritt gekostet haben muss. Alles zurückzulassen, die Weiten Apuliens, il mare, la Gravina, la famiglia … und allen Unsicherheiten zum Trotz alleine in ein fremdes Land zu gehen, um der Familie eine bessere Zukunft bieten zu können. Und dabei ist er nur einer von vielen, die diesen Schritt gewagt haben und wagen.
il sogno del nonno
neunzehnhundertfünfundsiebzig
ein haus und drei etagen
für jeden sohn
eine
die letzte unvollendet
Ich stehe noch immer in der leeren Wohnung. Der Projektor wirft Leben an die Wand. Ein anderes Leben. Die gleichen Fliesen, der gleiche Tisch, die gleiche Plastikblume, aber eine andere Zeit. Die leeren Zimmer sind voller Emotionen. Es sieht eigentlich alles aus wie heute, doch es wird gespeist, gelacht, getanzt. Meine Nonna grinst, sie ist glücklich - oder? Hinter ihr lächelt Padre Pio vor der beige-gekachelten Wand und ein barbäuchiger Onkel macht einen Witz. Alle lachen. Der Projektor geht aus. Die Bilder verschwinden.
◁ △ ▽ ▷ ∆ ∇ Das Knattern eines Mopeds reißt mich aus meinen Gedanken. Ich blicke im abgedunkelten Raum umher. Durch die halbgeschlossenen Jalousien fällt ein Sonnenstrahl ins Dunkel.
leere wände
verlebte zimmer
projektionen
gelebter zeiten
Ich flüchte aus dem Raum, die Treppe hinauf und stoße die schwere Metalltür auf. Grelles Licht und ein Schwall Mittagshitze fliegen mir entgegen. Ich stehe auf der Terrasse, eine Wäscheleine, eine Badewanne und einige Blumenkübel umspielen den Beton. Die dritte Etage unseres Hauses steht für den gescheiterten Plan meines Nonno, irgendwann mit seiner Familie nach Ginosa zurückzukehren. Jeder der drei Söhne sollte eine Etage bewohnen. Vielleicht hat er irgendwann realisiert, dass es keine Zukunft in Italien gibt. Vielleicht ist er gestorben, bevor das Haus fertiggestellt werden konnte. Die unvollendete dritte Etage steht aber auch für sein Verhältnis zu meinem Papa. Armut und schlechte Lebensverhältnisse förderten zu Hause ein gewaltvolles Klima. Gerade achtzehn bricht mein Vater mit den cholerischen Anfällen meines Nonno, verlässt fluchtartig sein Elternhaus und macht sich auf die Suche nach seinem eigenen Weg.
II: Warum müssen Gäste eigentlich arbeiten?
voll hoffnung gekommen
ungewollt geblieben
und
nie wieder gegangen
1965▸ Nonna Lucia arbeitet als Reinigungskraft im Amt für Öffentliche Ordnung in der Herkulesstraße in Köln. Knapp 50 Jahre später unterrichte ich Deutsch für Geflüchtete im mittlerweile zu einer Notunterkunft umfunktionierten Gebäude. Ist das dann gelungene Integration? Ich schau meinen Großeltern noch eine Weile zu, Nonna spricht gerade mit einer Kollegin. Nonno verlässt das Gebäude, steckt sich eine Zigarette an und flucht. Auf dem Schild vor der Bar an der Ecke steht Italiener und Hunde müssen draußen bleiben. So in etwa müssen mein Nonno und all die anderen Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter diese Jahre als unwillkommene Gäste erlebt haben.
Colonia
Città dove son cresciuta
e le ambizioni non si realizzano
Dieses Zitat aus einem Gedicht von Rosa Spitaleri aus dem Jahre 1991 beschreibt, wie es sich anfühlen muss, in der Fremde aufzuwachsen. Köln. Stadt meiner Kindheit, wo meine Erwartungen jemand zu sein sich nicht erfüllen. So, wie ihr, ging es vielen Kindern der ersten und zweiten Generation. Hin- und hergerissen zwischen dem Elternhaus und der Ausländerklasse hat mein Papa in seiner Jugend nicht die Möglichkeiten erfahren wirklich anzukommen. Mit acht Jahren zurückgelassen mit seinem kleinen Bruder in einem Internat in Italien, später dann nachgezogen - entwurzelt und nie wirklich neu eingepflanzt - war er mit seinen Träumen allein in einer Gesellschaft, die ihn am liebsten wieder zurückgeschickt hätte. Konkretisieren tut sich das anhand der wahllosen Zuweisung am Ende der Schulzeit. Gerne wäre mein Papa technischer Zeichner oder Bahnbeamter geworden, doch bot man ihm aufgrund seiner fehlenden Staatsbürgerschaft sowie Sprachkenntnisse und Noten nur eine Ausbildung zum Autoschlosser an. Erst als er volljährig ist, gelingt es ihm, seinem Elternhaus zu türmen und später Goldschmiedemeister zu werden. So emanzipierte er sich aus eigener Kraft von einem System der Ungerechtigkeiten.
Ein anderes Sinnbild für das Leben zwischen Zwei Welten, wie es schon Nevfel Cumart 1996 beschrieb, ist der rote Kinderkoffer meines Onkels, den ich vor einiger Zeit in Ginosa fand. Beklebt mit Stickern von Ford,Porzity (referierend auf den Stadtteil Köln Porz), Swissair, Il Mulino (einem Club in Ginosa) und Ciao Sportswear zeugt er von einem Leben zwischen Ginosa und Köln. Als Koffer ist er zudem ein Bild für die Reise, das Unterwegssein, das Ungewisse und Neue.
III: Zwischen Melonen und Roggendinkelvollkornbrot
1984▸ meine Eltern lernten sich kennen. Ich suche einen Mann, so sprach meine Mama meinen Papa in einer Kneipe in der Kölner Südstadt an. Und so sollte es sein. 1990 folgte ich, 1991 mein Bruder. Unsere Wohnung wurde schnell zu klein und wir zogen in ein Haus ins Umland. Plötzlich sahen wir uns konfrontiert mit einer ländlichen Lebensrealität. Für meinen Papa war dies sicherlich die zweite Entwurzelung, ein zweites Mal alles zurücklassen, ein zweites Mal neu beginnen. Doch diesmal ist er nicht allein. Meine Eltern gründen nun ihre eigene Familie, ein eigenes Nest, in dem wir weich gebettet aufwachsen sollten.
1997▸ endlose Sandstrände, duftende Pineta, Zikadenzirpen, Mare azzurro. Gesalzene Chips. Kindheitserinnerungen. Die Sommerurlaube im Süden Italiens waren immer die Highlights unserer Kindheit. In Erinnerung ist mir auch die Fahrt geblieben. Zweitausendkilometer gen Süden in unserem Auto. Während mein Bruder neben mir auf der Kühlbox mit seinem Kissen döst, betrachte ich ehrfürchtig die Berge, die sich vor den Fensterscheiben auftürmen wie Wesen aus einer anderen Welt. Im Tunnel halten wir alle die Luft an, dann plötzlich blauer Himmel und etwas später eine feine blaue Linie am Horizont. Da ist es - das Meer! Irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit, halten wir in der Mittagshitze an einer Tankstelle irgendwo im Süden. Es ist unvorstellbar heiß, heiß wie ein Föhn, träge steige ich aus dem Auto, es riecht nach einer Mischung aus Oleander und Petroleum und wir flüchten in das gekühlte Innenleben der Tankstelle. Noch viel später klappert unser Auto irgendwo über die Landstraße, am Fenster rauscht eine schroffe Landschaft entlang, gelegentlich eine Kaktusfeige, Olivenbäume oder Trulli. Dann überqueren wir endlich die Gravina, die mit Höhlen gespickte Schlucht in Ginosa, und unser Auto kommt quietschend vor dem kleinen Haus zum Halten. Meine Nonna kommt freudig die Treppe hinunter und breitet herzlich ihre Arme aus.
Abends streunen wir mit einem Rudel italienischer Kinder und einem Fußball durch die Gassen Ginosas. Come ti chiami? Cosa significa Deutsch? Quanti anni hai? Der Sinn dieser Wörter sollte sich mir jedoch erst Jahre später erschließen. Uns fehlten schlicht die Regeln, die dafür notwendig waren, diesen sprachlichen Code zu entschlüsseln. Deutsch hatten wir zu Hause gelernt, Italienisch nur bei einigen Besuchen des muttersprachlichen Unterrichts. Buongiorno Signora Rossi, so weit so gut, so viel war hängengeblieben. Plötzlich fühle ich mich nicht mehr so italienisch, wie noch vor wenigen Tagen in meiner deutschen Grundschule. Aber wenn ich in Deutschland irgendwie anders bin und mich in Italien niemand versteht, was bin ich dann eigentlich? Eine Frau, die aus einem Fenster an der Straße lehnt, findet dafür einfache Worte, die mir in Erinnerung bleiben sollten. In Deutschland bist du Deutscher, und in Italien bist du Italiener. Auch wenn ihr die Antwort auf diese Frage scheinbar leichtzufallen schien, sollte mich ebendiese doch noch viele Jahre beschäftigen. Unsere deutsche Mentalität wird auch am Spiaggia Libera hart auf die Probe gestellt. Zu viele Schirme - zu viele Menschen - zu wenig Platz. Zwischen Kokosnussöl, Körpern und Kühlboxen fällt es uns schwer, unseren Sandabschnitt zu verteidigen, während der schmale Blick auf die blaue Badewanne langsam zuwächst. Aber uns Kindern ist das eigentlich egal. Hauptsache, wir können Sandsphinxe bauen, im Wasser nach Quallen jagen, den Cocobello beobachten und dabei im Lido Granita schlürfen.
2017▸ Südlich von Rom ist Italien von Eseln bewohnt, pflegte der italienische Chef meiner Mama stets zu behaupten. Man mag diese arrogante Formulierung des Nordens für lustig halten, doch zeigt sich hier mit welcher Attitüde seit jeher auf den Süden herabgeschaut wird. Ich konnte das nie nachvollziehen. Herzliche Menschen, wunderbares Essen, verlassene Sandstrände und vergessene Bergzüge. Alles hat mich stets in den Süden gezogen. Gerade volljährig ging ich daher das erste Mal nach Italien. Ich wollte die Sprache lernen und ein Land besser verstehen, von dem ich stets Teil gewesen war, aber auf welches ich immer nur aus der Ferne einen Blick hatte erhaschen können. Für mich war Italien gleich einer neuen Welt, die es zu entdecken galt. Auf den ersten Aufenthalt in Vicenza folgte schnell ein zweiter in Neapel. Nach Italia light, wollte ich die italienische Fülle am ganzen Leibe erfahren, hinein ins Chaos Süditaliens oder wie meine Nonna stets rezitierte Vedi Napoli e poi muori.
IV: Pasta-Pädagogik
First generation suffered a lot
Second generation learned to say Warum
Third generation learned to say Nein
Und die dritte Generation lernte nicht nur Nein zu sagen, sondern auch, sich gleich dem römischen Legionär Arminius in umgekehrter Manier, gegen Ungerechtigkeiten zu wehren. Vielleicht ist das einer der Gründe, weshalb ich an diesem Beitrag arbeite und mich schon seit so vielen Jahren für das Thema interessiere. Als ich in diesem Zusammenhang vor ein paar Tagen ein wenig in meinen alten Blogbeiträgen von 2010 stöberte, bin ich tatsächlich auf Zeilen gestoßen, die den Augenblick beschreiben, als ich das erste Mal den Gedanken hegte, selbständig der Pasta meiner Nonna nachzueifern. Alle undici siamo arrivati alla casa della mia nonna, che non ho vissuto per più di un anno. Eravamo sazi, tuttavia la prima domanda era: „Avete fame? Ho comprato Focaccia! Mangiate! Dai.” Non ci può dire, che c’era un morto di fame a quella fine settimana. Mia nonna e io abbiamo preparato due chili di pasta fresca, le Polpette, Ceci e molte altre cose. Ho imparato bene e credo, che posso fare la pasta fresca ora anche da solo.
Wenn wir meine Nonna besuchten, ging es eigentlich von morgens bis abends nur darum, den Tagesablauf darauf auszurichten, unsere Bäuche möglichst randvoll zu füllen, bis wir schließlich besinnungslos in der Hitze auf der Couch wegdämmerten. In meinem Blog brachte ich dies 2014 auf den Punkt: Am Wochenende habe ich es auch endlich geschafft meine Oma in Apulien zu besuchen, dreizehn Euro eine Fahrt – fünf Stunden, Check! Das Wochenende stand ganz im Zeichen des Essens: Nudeln mit Bohnen, Nudeln mit Gemüse und selbstgemachte Nudeln mit Tomatensauce, Pferderouladen und Fenchel-Peperoni-Würstchen, dazwischen Focaccia, eingelegte Paprika, Cornetto, Café und vieles mehr – wir essen bis wir platzen. Als ich meinen italienischen Großcousinen von unserem geliebten deutschen Frühstück erzähle, schauen sie mich nur an als hätte ich sie nicht mehr alle beisammen und klären mich kurzerhand über einen gelungenen Essenstag in Italien auf: Am besten beginnt man gegen neun Uhr mit einem Cornetto und einem Café, um aufzuwachen. Nach dem Frühstück sollte man dann schon bald einen Aperitif (herzhafte und süße Teigwaren und einen kühlen Drink) zu sich nehmen. Gegen vierzehn Uhr gibt es ein großes Mittagessen, im besten Falle Pasta – natürlich. Siebzehn Uhr Miranda (Einige Brote) und abends dann natürlich noch Cena, also das Abendessen. Jetzt schaue ich verständnislos drein. Ich weiß gar nicht, warum mich dies überhaupt verwunderte. Il carne di cavallo vuole il formaggio di pecora oder la cucina vuole tempo e pazienza. Denn es waren Mantras wie diese, die meiner Nonna seit rund siebzig Jahren dabei verhalfen, ihre Küche zu perfektionieren. Egal ob Fagiolini con Linguine e Sugo, oder Orecchiette con Ceci, oder Cavatelli con Rape o Cicorie, irgendein Gemüse hatte immer Saison und Pasta sowieso immer. Wenn ich mich zurückerinnere, war Pasta eigentlich immer schon da gewesen. Eine meiner ersten Erinnerungen: Während ich mit meinem Bruder unter einem Stuhl krabbel, werden oben auf dem Tisch frische Cavatelli hergestellt. Der Geruch von köchelndem Sugo füllt den Raum.Mein Bruder versucht bis heute dem magischen Sugo unserer Nonna bis ins kleinste Detail nachzueifern und doch will es nicht so recht gelingen. Es fehlen die Zutaten und Aromen des Südens, der Sonne und der Gelassenheit.
2020▸Mit den digitalisierten Super 8 Filmen meines Nonno unter meinem Arm gehe ich zu einer Veranstaltung der Makkaroni Akademie in Köln, auch wenn es hier weniger um Pasta geht als um Italienbilder und ihre Geschichten, fühle ich mich direkt wohl zwischen den Makkaronis. An diesem Abend bringe ich Fotos meiner Nonna und der gemeinsamen Urlaube in Süditalien mit. Ein Jahr später organisieren wir gemeinsam den ersten Pasta Abend. Die Idee ist, zusammen Pasta herzustellen und dabei ins Gespräch zu kommen, über Fotografien aus den Familienalbum zu sprechen und gemeinsame Geschichten zu finden. Während ich den Versammelten erkläre, in welchem Winkel die Cavatelli gerollt werden müssen, erzähle ich von meiner Nonna und unserer gemeinsamen Liebe für Pasta.
Irgendwann einmal möchte ich auch in der Schule, in der ich als Lehrer arbeite gemeinsam mit meinen Schüler:innen Pasta machen. Hier versuche ich als Vorbild für Kinder aus allen möglichen Herkunftsländern zu fungieren. Wann immer der Lehrplan die Freiheit zulässt, thematisieren wir Inhalte, die sonst höchstens in einer Randstunde Notiz finden. So sprechen wir etwa über Interkulturelle Literatur und kunstschaffende Fotograf:innen aus Afrika. Wir diskutieren über den globalen Süden und postkoloniale Machtstrukturen. In diesen Kontexten beginnen Schüler:innen ganz von allein über ihre individuellen Biografien zu sprechen, weil es Themen sind, an welche sie in ihrer Lebensrealität anknüpfen können. Und ich merke, wie wichtig es für Schüler:innen ist, eine Lehrkraft mit eigener Zuwanderungsgeschichte zu haben.
Auch wenn mein Papa diese Erfahrung in seiner Schulzeit nicht machen konnte, hat er doch einige Wochen später seinen Pasta-Moment, kann endlich Frieden mit meinem Nonno Nicola schließen und stellt ihm einen gefüllten Teller mit Pasta an den freien Platz am Tisch. Auch wenn er lange Zeit keinen Platz an diesem Tisch hatte, fühlt es sich doch gut an, dass nun alle wieder beisammensitzen, auch wenn natürlich nur im Geiste.
V: Ancora qui
August 2022▸ Machtlos stehe ich am Bett meiner Nonna und schaue, wie das Leben langsam aus ihr schwindet. Es zerrinnt wie Sand zwischen den Fingern. All die ungehörten Geschichten, all das unnotierte Wissen. Was bleibt nun von dieser Frau, einer der letzten Zeuginnen einer Zeit, die das Bild Deutschlands noch bis heute prägen sollte? Und meine Nonna entschuldigt sich. Alles ist gut. Ich möchte ihr gerne noch so viel sagen, noch so viel fragen, doch ich weiß nicht wie. Und meine Nonna entschuldigt sich. Ich spiele ihr ein Lied auf der Trompete, Musik war immer ihre heimliche Liebe. Sie ist glücklich und wünscht sich das Lied Rose Rosse. Nächstes Mal spiele ich es für dich – verspreche ich. Ich halte ihre Hand und alles ist gut. Beim Abschied habe ich bereits Tränen in den Augen und das Gefühl, dass dieser Abschied ein endgültiger sein sollte. Zu Hause starre ich ins Leere. Ich öffne die Balkontür und rufe meinen Frust in die Nacht. Ich möchte meine Gedanken in Worte fassen. Ich möchte diese Geschichte von Mut, Tränen, Heimweh und neuen Horizonten aufschreiben. Ich möchte Generationen eine Stimme verleihen, die niemals angehört wurden. Das ist mein kleiner Beitrag, um das Erbe der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter aufrechtzuerhalten, um ihren Beitrag zu unserer Gesellschaft sichtbar zu machen, um zu zeigen, dass es nie wichtiger gewesen ist zusammenzuarbeiten. Gegen Marginalisierung und gegen das Verschwinden.
Oktober 2022▸ Ein leichter Wind weht der Trauergesellschaft von der Gravina aus entgegen. Ungefähr dreißig Menschen haben sich an diesem Nachmittag auf dem kleinen Friedhof am Rande der großen Schlucht in Ginosa versammelt, um Abschied zu nehmen. Alle sind gekommen, mein Bruder, mein Papa und seine Geschwister, Tante Maria, Giuseppe aus Taranto und all die Verwandten, die ich bis dato nur aus Erzählungen kannte. All das, was meine Nonna war und immer noch ist, liegt jetzt in dieser kleinen schwarzen Vase vor mir. Irgendwie ist das alles unwirklich, schwer zu begreifen, abstrakt und dennoch ist es ein schöner Nachmittag. Nach der kleinen Trauerfeier gehen wir gemeinsam zu der Mauer, in der unser Nonno bereits seit über dreißig Jahren steht. Das Fach ist geöffnet und die kleine schwarze Vase wird zu der Dose, in der die Gebeine meines Nonno aufbewahrt werden, gestellt. Bevor das Fach wieder geschlossen wird, geht meinem Papa durch den Kopf, dass die beiden sich berühren müssen. Blechdose und Vase werden aneinandergerückt. Der Bestatter mischt ein wenig Mörtel an und die neue Platte mit den Namen meiner Nonna und meines Nonno wird vor die Nische geschoben. De Tommaso Lucia N. 7-7-1935 M. 24-8-2022, daneben Di Canio Nicola N. 23-12-1928 M. 17-11-1984. Auf der Platte ist ein gemeinsames Foto meiner Großeltern zu sehen. Ein letzter Wunsch meiner Nonna. Nun sind sie endlich wieder vereint nach all den Jahren. Der Akt des Verschließens hat auf einmal etwas sehr Endgültiges, Greifbares. Viel weniger abstrakt als noch zuvor die Predigt in der Kapelle. Mir kommen die Tränen. In meinem Kopf das Lieblingslied meiner Nonna. Auf der Trompete möchte ich ihren letzten Wunsch erfüllen, doch fehlt mir die Kraft und der Atem. Ich versuche es trotzdem.
Rose Rosse per te
Ho comprato stasera
E il tuo cuore lo sa
Cosa voglio da te
Am Abend steht ein Teller für Nonna mit am Tisch. Wir haben eine gute Zeit in Gedenken an sie. Während ich diese letzten Zeilen in meiner Wohnung in Köln schreibe, fliegt plötzlich ein kleiner Vogel zur Balkontür herein und wieder heraus. Vielleicht eine Kohlmeise, vielleicht meine Nonna. Ich lege einige Samen vor die Tür. Non si sa mai. Was ist das Erbe meiner Nonna? Was ist geblieben?
Zurück im Alltag fragt mich mein Schüler Vincenzo, ob wir in der Projektwoche gemeinsam einen Pasta Workshop anbieten wollen. Dies lässt mein italienisch-deutsches Lehrerherz höherschlagen. Wahrscheinlich geht es schlussendlich nicht darum, woher wir alle kommen, sondern wie wir miteinander zusammenleben. Denn erst im gemeinsamen Sein kann etwas entstehen, dass sich Heimat nennt. Ein Kindheitsfreund von mir war damals in einem sozialen Netzwerk in einer Gruppe, die sich im Jargon der 2000er Mischlingskinder – das Beste aus zwei Welten nannte. Über diesen Satz habe ich noch Jahre später nachdenken müssen. Mittlerweile glaube ich, dass gerade wir, die dritte Generation, die Kraft haben können, Nevfel Cumarts ersehnte Brücke zu sein, eine Brücke zwischen all den Welten.
Mio caro amico, disse
Qui sono nato
In questa strada
Ora lascio il mio cuore
Ma come fai a non capire
È una fortuna, per voi che restate
A piedi nudi a giocare nei prati
Mentre là in centro io respiro il cemento
Ma verrà un giorno che ritornerò
Ancora qui*
*Adriano Celentano – Il ragazzo della via Gluck 1966
40.5705851326491, 16.757096484719586
⇄ Gegen das Verschwinden
per la mia nonna
per il mio papà
Questa è la storia
Di uno di noi
Anche lui nato per caso in via Gluck
In una casa, fuori città
Gente tranquilla, che lavorava
Là dove c'era l'erba ora c'è
Una città
E quella casa in mezzo al verde ormai
Dove sarà*
I: Auf bewegten Spuren ↓ le radici della mia famiglia
2020▸ Ginosa, Apulien: Es sind Sommerferien und ich schwitze im Haus meiner Großeltern in einem kleinen Ort in Süditalien bei 40℃. Die Hitze flimmert auf dem Flachdach und ich stöbere ein wenig durch die leeren Zimmer des Hauses. In einer staubigen Kiste, irgendwo zwischen vergoldetem Porzellan und selbstgemachter Passata, finde ich alte Super 8 Kassetten meines Nonno. Filmino del Mare steht seitlich auf der einen Hülle geschrieben, Urlaub 78 auf der anderen. In einer Ecke steht ein alter Projektor und ich tauche ab in alte Zeiten.
Einige Personen stehen mit Schaufeln vor einem Schutthaufen, daneben eine Betonmischmaschine. Sie zeigen auf einen Rohbau und lachen. ☲ Die Familie sitzt im Auto und fährt nach Ginosa Marina, der Sandstrand ist kaum zu sehen vor lauter Sonnenschirmen. Akrobatik im Wasser, einige Handstände und Tretbootabenteuer. ☵ Mehrere Makkaronis stehen vor einem Auto und lachen in die Kamera. ☷ Ein kleiner Hund läuft auf meinen Onkel zu. ☱ Die Silberhochzeit meiner Großeltern, es gibt Berge an Essen, Wein und unverständlicher Rituale mit gehäkelten Puppen. Heile Welt? Non lo so. ☱ Zwei Jungen spielen Scopa. Nonna kocht für alle. Pasta. Natürlich. ☴ Wieder Ginosa. Diesmal ist das Haus fertig. Es wird gefeiert, getanzt. Eine Melone geht herum und natürlich Café. La zia steht im Türrahmen und schaut zu. ☳ Mein Onkel trinkt als kleiner Junge aus einem Brunnen. ☶ Eine Masseria, dort eine Katze, ein Hund, wieder Melone und ein Huhn. Nonna hebt die Melone über den Kopf. Alle essen.
Ich kenne diese Orte. Sie lachen mich an aus einer nicht allzu fernen Vergangenheit. Vertraut und doch sehr fremd.
eintausendsiebenhundertvierundsiebzig
Kilometer legte mein Nonno Nicola zurück, als er 1961 seine Heimat Apulien verließ und in eine ungewisse Zukunft aufbrach. Als Garten- und Landschaftsbauer in Solingen Ohlig half er beim Wiederaufbau des kriegszerstörten Deutschlands. Wenige Jahre später folgten meine Nonna, mein Papa und sein Bruder. Mein Nonno arbeitete zu dem Zeitpunkt bereits bei Ford in Köln. Für mich ist heute kaum vorstellbar, wie viel Kraft ein solcher Schritt gekostet haben muss. Alles zurückzulassen, die Weiten Apuliens, il mare, la Gravina, la famiglia … und allen Unsicherheiten zum Trotz alleine in ein fremdes Land zu gehen, um der Familie eine bessere Zukunft bieten zu können. Und dabei ist er nur einer von vielen, die diesen Schritt gewagt haben und wagen.
il sogno del nonno
neunzehnhundertfünfundsiebzig
ein haus und drei etagen
für jeden sohn
eine
die letzte unvollendet
Ich stehe noch immer in der leeren Wohnung. Der Projektor wirft Leben an die Wand. Ein anderes Leben. Die gleichen Fliesen, der gleiche Tisch, die gleiche Plastikblume, aber eine andere Zeit. Die leeren Zimmer sind voller Emotionen. Es sieht eigentlich alles aus wie heute, doch es wird gespeist, gelacht, getanzt. Meine Nonna grinst, sie ist glücklich - oder? Hinter ihr lächelt Padre Pio vor der beige-gekachelten Wand und ein barbäuchiger Onkel macht einen Witz. Alle lachen. Der Projektor geht aus. Die Bilder verschwinden.
◁ △ ▽ ▷ ∆ ∇ Das Knattern eines Mopeds reißt mich aus meinen Gedanken. Ich blicke im abgedunkelten Raum umher. Durch die halbgeschlossenen Jalousien fällt ein Sonnenstrahl ins Dunkel.
leere wände
verlebte zimmer
projektionen
gelebter zeiten
Ich flüchte aus dem Raum, die Treppe hinauf und stoße die schwere Metalltür auf. Grelles Licht und ein Schwall Mittagshitze fliegen mir entgegen. Ich stehe auf der Terrasse, eine Wäscheleine, eine Badewanne und einige Blumenkübel umspielen den Beton. Die dritte Etage unseres Hauses steht für den gescheiterten Plan meines Nonno, irgendwann mit seiner Familie nach Ginosa zurückzukehren. Jeder der drei Söhne sollte eine Etage bewohnen. Vielleicht hat er irgendwann realisiert, dass es keine Zukunft in Italien gibt. Vielleicht ist er gestorben, bevor das Haus fertiggestellt werden konnte. Die unvollendete dritte Etage steht aber auch für sein Verhältnis zu meinem Papa. Armut und schlechte Lebensverhältnisse förderten zu Hause ein gewaltvolles Klima. Gerade achtzehn bricht mein Vater mit den cholerischen Anfällen meines Nonno, verlässt fluchtartig sein Elternhaus und macht sich auf die Suche nach seinem eigenen Weg.
II: Warum müssen Gäste eigentlich arbeiten?
voll hoffnung gekommen
ungewollt geblieben
und
nie wieder gegangen
1965▸ Nonna Lucia arbeitet als Reinigungskraft im Amt für Öffentliche Ordnung in der Herkulesstraße in Köln. Knapp 50 Jahre später unterrichte ich Deutsch für Geflüchtete im mittlerweile zu einer Notunterkunft umfunktionierten Gebäude. Ist das dann gelungene Integration? Ich schau meinen Großeltern noch eine Weile zu, Nonna spricht gerade mit einer Kollegin. Nonno verlässt das Gebäude, steckt sich eine Zigarette an und flucht. Auf dem Schild vor der Bar an der Ecke steht Italiener und Hunde müssen draußen bleiben. So in etwa müssen mein Nonno und all die anderen Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter diese Jahre als unwillkommene Gäste erlebt haben.
Colonia
Città dove son cresciuta
e le ambizioni non si realizzano
Dieses Zitat aus einem Gedicht von Rosa Spitaleri aus dem Jahre 1991 beschreibt, wie es sich anfühlen muss, in der Fremde aufzuwachsen. Köln. Stadt meiner Kindheit, wo meine Erwartungen jemand zu sein sich nicht erfüllen. So, wie ihr, ging es vielen Kindern der ersten und zweiten Generation. Hin- und hergerissen zwischen dem Elternhaus und der Ausländerklasse hat mein Papa in seiner Jugend nicht die Möglichkeiten erfahren wirklich anzukommen. Mit acht Jahren zurückgelassen mit seinem kleinen Bruder in einem Internat in Italien, später dann nachgezogen - entwurzelt und nie wirklich neu eingepflanzt - war er mit seinen Träumen allein in einer Gesellschaft, die ihn am liebsten wieder zurückgeschickt hätte. Konkretisieren tut sich das anhand der wahllosen Zuweisung am Ende der Schulzeit. Gerne wäre mein Papa technischer Zeichner oder Bahnbeamter geworden, doch bot man ihm aufgrund seiner fehlenden Staatsbürgerschaft sowie Sprachkenntnisse und Noten nur eine Ausbildung zum Autoschlosser an. Erst als er volljährig ist, gelingt es ihm, seinem Elternhaus zu türmen und später Goldschmiedemeister zu werden. So emanzipierte er sich aus eigener Kraft von einem System der Ungerechtigkeiten.
Ein anderes Sinnbild für das Leben zwischen Zwei Welten, wie es schon Nevfel Cumart 1996 beschrieb, ist der rote Kinderkoffer meines Onkels, den ich vor einiger Zeit in Ginosa fand. Beklebt mit Stickern von Ford,Porzity (referierend auf den Stadtteil Köln Porz), Swissair, Il Mulino (einem Club in Ginosa) und Ciao Sportswear zeugt er von einem Leben zwischen Ginosa und Köln. Als Koffer ist er zudem ein Bild für die Reise, das Unterwegssein, das Ungewisse und Neue.
III: Zwischen Melonen und Roggendinkelvollkornbrot
1984▸ meine Eltern lernten sich kennen. Ich suche einen Mann, so sprach meine Mama meinen Papa in einer Kneipe in der Kölner Südstadt an. Und so sollte es sein. 1990 folgte ich, 1991 mein Bruder. Unsere Wohnung wurde schnell zu klein und wir zogen in ein Haus ins Umland. Plötzlich sahen wir uns konfrontiert mit einer ländlichen Lebensrealität. Für meinen Papa war dies sicherlich die zweite Entwurzelung, ein zweites Mal alles zurücklassen, ein zweites Mal neu beginnen. Doch diesmal ist er nicht allein. Meine Eltern gründen nun ihre eigene Familie, ein eigenes Nest, in dem wir weich gebettet aufwachsen sollten.
1997▸ endlose Sandstrände, duftende Pineta, Zikadenzirpen, Mare azzurro. Gesalzene Chips. Kindheitserinnerungen. Die Sommerurlaube im Süden Italiens waren immer die Highlights unserer Kindheit. In Erinnerung ist mir auch die Fahrt geblieben. Zweitausendkilometer gen Süden in unserem Auto. Während mein Bruder neben mir auf der Kühlbox mit seinem Kissen döst, betrachte ich ehrfürchtig die Berge, die sich vor den Fensterscheiben auftürmen wie Wesen aus einer anderen Welt. Im Tunnel halten wir alle die Luft an, dann plötzlich blauer Himmel und etwas später eine feine blaue Linie am Horizont. Da ist es - das Meer! Irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit, halten wir in der Mittagshitze an einer Tankstelle irgendwo im Süden. Es ist unvorstellbar heiß, heiß wie ein Föhn, träge steige ich aus dem Auto, es riecht nach einer Mischung aus Oleander und Petroleum und wir flüchten in das gekühlte Innenleben der Tankstelle. Noch viel später klappert unser Auto irgendwo über die Landstraße, am Fenster rauscht eine schroffe Landschaft entlang, gelegentlich eine Kaktusfeige, Olivenbäume oder Trulli. Dann überqueren wir endlich die Gravina, die mit Höhlen gespickte Schlucht in Ginosa, und unser Auto kommt quietschend vor dem kleinen Haus zum Halten. Meine Nonna kommt freudig die Treppe hinunter und breitet herzlich ihre Arme aus.
Abends streunen wir mit einem Rudel italienischer Kinder und einem Fußball durch die Gassen Ginosas. Come ti chiami? Cosa significa Deutsch? Quanti anni hai? Der Sinn dieser Wörter sollte sich mir jedoch erst Jahre später erschließen. Uns fehlten schlicht die Regeln, die dafür notwendig waren, diesen sprachlichen Code zu entschlüsseln. Deutsch hatten wir zu Hause gelernt, Italienisch nur bei einigen Besuchen des muttersprachlichen Unterrichts. Buongiorno Signora Rossi, so weit so gut, so viel war hängengeblieben. Plötzlich fühle ich mich nicht mehr so italienisch, wie noch vor wenigen Tagen in meiner deutschen Grundschule. Aber wenn ich in Deutschland irgendwie anders bin und mich in Italien niemand versteht, was bin ich dann eigentlich? Eine Frau, die aus einem Fenster an der Straße lehnt, findet dafür einfache Worte, die mir in Erinnerung bleiben sollten. In Deutschland bist du Deutscher, und in Italien bist du Italiener. Auch wenn ihr die Antwort auf diese Frage scheinbar leichtzufallen schien, sollte mich ebendiese doch noch viele Jahre beschäftigen. Unsere deutsche Mentalität wird auch am Spiaggia Libera hart auf die Probe gestellt. Zu viele Schirme - zu viele Menschen - zu wenig Platz. Zwischen Kokosnussöl, Körpern und Kühlboxen fällt es uns schwer, unseren Sandabschnitt zu verteidigen, während der schmale Blick auf die blaue Badewanne langsam zuwächst. Aber uns Kindern ist das eigentlich egal. Hauptsache, wir können Sandsphinxe bauen, im Wasser nach Quallen jagen, den Cocobello beobachten und dabei im Lido Granita schlürfen.
2017▸ Südlich von Rom ist Italien von Eseln bewohnt, pflegte der italienische Chef meiner Mama stets zu behaupten. Man mag diese arrogante Formulierung des Nordens für lustig halten, doch zeigt sich hier mit welcher Attitüde seit jeher auf den Süden herabgeschaut wird. Ich konnte das nie nachvollziehen. Herzliche Menschen, wunderbares Essen, verlassene Sandstrände und vergessene Bergzüge. Alles hat mich stets in den Süden gezogen. Gerade volljährig ging ich daher das erste Mal nach Italien. Ich wollte die Sprache lernen und ein Land besser verstehen, von dem ich stets Teil gewesen war, aber auf welches ich immer nur aus der Ferne einen Blick hatte erhaschen können. Für mich war Italien gleich einer neuen Welt, die es zu entdecken galt. Auf den ersten Aufenthalt in Vicenza folgte schnell ein zweiter in Neapel. Nach Italia light, wollte ich die italienische Fülle am ganzen Leibe erfahren, hinein ins Chaos Süditaliens oder wie meine Nonna stets rezitierte Vedi Napoli e poi muori.
IV: Pasta-Pädagogik
First generation suffered a lot
Second generation learned to say Warum
Third generation learned to say Nein
Und die dritte Generation lernte nicht nur Nein zu sagen, sondern auch, sich gleich dem römischen Legionär Arminius in umgekehrter Manier, gegen Ungerechtigkeiten zu wehren. Vielleicht ist das einer der Gründe, weshalb ich an diesem Beitrag arbeite und mich schon seit so vielen Jahren für das Thema interessiere. Als ich in diesem Zusammenhang vor ein paar Tagen ein wenig in meinen alten Blogbeiträgen von 2010 stöberte, bin ich tatsächlich auf Zeilen gestoßen, die den Augenblick beschreiben, als ich das erste Mal den Gedanken hegte, selbständig der Pasta meiner Nonna nachzueifern. Alle undici siamo arrivati alla casa della mia nonna, che non ho vissuto per più di un anno. Eravamo sazi, tuttavia la prima domanda era: „Avete fame? Ho comprato Focaccia! Mangiate! Dai.” Non ci può dire, che c’era un morto di fame a quella fine settimana. Mia nonna e io abbiamo preparato due chili di pasta fresca, le Polpette, Ceci e molte altre cose. Ho imparato bene e credo, che posso fare la pasta fresca ora anche da solo.
Wenn wir meine Nonna besuchten, ging es eigentlich von morgens bis abends nur darum, den Tagesablauf darauf auszurichten, unsere Bäuche möglichst randvoll zu füllen, bis wir schließlich besinnungslos in der Hitze auf der Couch wegdämmerten. In meinem Blog brachte ich dies 2014 auf den Punkt: Am Wochenende habe ich es auch endlich geschafft meine Oma in Apulien zu besuchen, dreizehn Euro eine Fahrt – fünf Stunden, Check! Das Wochenende stand ganz im Zeichen des Essens: Nudeln mit Bohnen, Nudeln mit Gemüse und selbstgemachte Nudeln mit Tomatensauce, Pferderouladen und Fenchel-Peperoni-Würstchen, dazwischen Focaccia, eingelegte Paprika, Cornetto, Café und vieles mehr – wir essen bis wir platzen. Als ich meinen italienischen Großcousinen von unserem geliebten deutschen Frühstück erzähle, schauen sie mich nur an als hätte ich sie nicht mehr alle beisammen und klären mich kurzerhand über einen gelungenen Essenstag in Italien auf: Am besten beginnt man gegen neun Uhr mit einem Cornetto und einem Café, um aufzuwachen. Nach dem Frühstück sollte man dann schon bald einen Aperitif (herzhafte und süße Teigwaren und einen kühlen Drink) zu sich nehmen. Gegen vierzehn Uhr gibt es ein großes Mittagessen, im besten Falle Pasta – natürlich. Siebzehn Uhr Miranda (Einige Brote) und abends dann natürlich noch Cena, also das Abendessen. Jetzt schaue ich verständnislos drein. Ich weiß gar nicht, warum mich dies überhaupt verwunderte. Il carne di cavallo vuole il formaggio di pecora oder la cucina vuole tempo e pazienza. Denn es waren Mantras wie diese, die meiner Nonna seit rund siebzig Jahren dabei verhalfen, ihre Küche zu perfektionieren. Egal ob Fagiolini con Linguine e Sugo, oder Orecchiette con Ceci, oder Cavatelli con Rape o Cicorie, irgendein Gemüse hatte immer Saison und Pasta sowieso immer. Wenn ich mich zurückerinnere, war Pasta eigentlich immer schon da gewesen. Eine meiner ersten Erinnerungen: Während ich mit meinem Bruder unter einem Stuhl krabbel, werden oben auf dem Tisch frische Cavatelli hergestellt. Der Geruch von köchelndem Sugo füllt den Raum.Mein Bruder versucht bis heute dem magischen Sugo unserer Nonna bis ins kleinste Detail nachzueifern und doch will es nicht so recht gelingen. Es fehlen die Zutaten und Aromen des Südens, der Sonne und der Gelassenheit.
2020▸Mit den digitalisierten Super 8 Filmen meines Nonno unter meinem Arm gehe ich zu einer Veranstaltung der Makkaroni Akademie in Köln, auch wenn es hier weniger um Pasta geht als um Italienbilder und ihre Geschichten, fühle ich mich direkt wohl zwischen den Makkaronis. An diesem Abend bringe ich Fotos meiner Nonna und der gemeinsamen Urlaube in Süditalien mit. Ein Jahr später organisieren wir gemeinsam den ersten Pasta Abend. Die Idee ist, zusammen Pasta herzustellen und dabei ins Gespräch zu kommen, über Fotografien aus den Familienalbum zu sprechen und gemeinsame Geschichten zu finden. Während ich den Versammelten erkläre, in welchem Winkel die Cavatelli gerollt werden müssen, erzähle ich von meiner Nonna und unserer gemeinsamen Liebe für Pasta.
Irgendwann einmal möchte ich auch in der Schule, in der ich als Lehrer arbeite gemeinsam mit meinen Schüler:innen Pasta machen. Hier versuche ich als Vorbild für Kinder aus allen möglichen Herkunftsländern zu fungieren. Wann immer der Lehrplan die Freiheit zulässt, thematisieren wir Inhalte, die sonst höchstens in einer Randstunde Notiz finden. So sprechen wir etwa über Interkulturelle Literatur und kunstschaffende Fotograf:innen aus Afrika. Wir diskutieren über den globalen Süden und postkoloniale Machtstrukturen. In diesen Kontexten beginnen Schüler:innen ganz von allein über ihre individuellen Biografien zu sprechen, weil es Themen sind, an welche sie in ihrer Lebensrealität anknüpfen können. Und ich merke, wie wichtig es für Schüler:innen ist, eine Lehrkraft mit eigener Zuwanderungsgeschichte zu haben.
Auch wenn mein Papa diese Erfahrung in seiner Schulzeit nicht machen konnte, hat er doch einige Wochen später seinen Pasta-Moment, kann endlich Frieden mit meinem Nonno Nicola schließen und stellt ihm einen gefüllten Teller mit Pasta an den freien Platz am Tisch. Auch wenn er lange Zeit keinen Platz an diesem Tisch hatte, fühlt es sich doch gut an, dass nun alle wieder beisammensitzen, auch wenn natürlich nur im Geiste.
V: Ancora qui
August 2022▸ Machtlos stehe ich am Bett meiner Nonna und schaue, wie das Leben langsam aus ihr schwindet. Es zerrinnt wie Sand zwischen den Fingern. All die ungehörten Geschichten, all das unnotierte Wissen. Was bleibt nun von dieser Frau, einer der letzten Zeuginnen einer Zeit, die das Bild Deutschlands noch bis heute prägen sollte? Und meine Nonna entschuldigt sich. Alles ist gut. Ich möchte ihr gerne noch so viel sagen, noch so viel fragen, doch ich weiß nicht wie. Und meine Nonna entschuldigt sich. Ich spiele ihr ein Lied auf der Trompete, Musik war immer ihre heimliche Liebe. Sie ist glücklich und wünscht sich das Lied Rose Rosse. Nächstes Mal spiele ich es für dich – verspreche ich. Ich halte ihre Hand und alles ist gut. Beim Abschied habe ich bereits Tränen in den Augen und das Gefühl, dass dieser Abschied ein endgültiger sein sollte. Zu Hause starre ich ins Leere. Ich öffne die Balkontür und rufe meinen Frust in die Nacht. Ich möchte meine Gedanken in Worte fassen. Ich möchte diese Geschichte von Mut, Tränen, Heimweh und neuen Horizonten aufschreiben. Ich möchte Generationen eine Stimme verleihen, die niemals angehört wurden. Das ist mein kleiner Beitrag, um das Erbe der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter aufrechtzuerhalten, um ihren Beitrag zu unserer Gesellschaft sichtbar zu machen, um zu zeigen, dass es nie wichtiger gewesen ist zusammenzuarbeiten. Gegen Marginalisierung und gegen das Verschwinden.
Oktober 2022▸ Ein leichter Wind weht der Trauergesellschaft von der Gravina aus entgegen. Ungefähr dreißig Menschen haben sich an diesem Nachmittag auf dem kleinen Friedhof am Rande der großen Schlucht in Ginosa versammelt, um Abschied zu nehmen. Alle sind gekommen, mein Bruder, mein Papa und seine Geschwister, Tante Maria, Giuseppe aus Taranto und all die Verwandten, die ich bis dato nur aus Erzählungen kannte. All das, was meine Nonna war und immer noch ist, liegt jetzt in dieser kleinen schwarzen Vase vor mir. Irgendwie ist das alles unwirklich, schwer zu begreifen, abstrakt und dennoch ist es ein schöner Nachmittag. Nach der kleinen Trauerfeier gehen wir gemeinsam zu der Mauer, in der unser Nonno bereits seit über dreißig Jahren steht. Das Fach ist geöffnet und die kleine schwarze Vase wird zu der Dose, in der die Gebeine meines Nonno aufbewahrt werden, gestellt. Bevor das Fach wieder geschlossen wird, geht meinem Papa durch den Kopf, dass die beiden sich berühren müssen. Blechdose und Vase werden aneinandergerückt. Der Bestatter mischt ein wenig Mörtel an und die neue Platte mit den Namen meiner Nonna und meines Nonno wird vor die Nische geschoben. De Tommaso Lucia N. 7-7-1935 M. 24-8-2022, daneben Di Canio Nicola N. 23-12-1928 M. 17-11-1984. Auf der Platte ist ein gemeinsames Foto meiner Großeltern zu sehen. Ein letzter Wunsch meiner Nonna. Nun sind sie endlich wieder vereint nach all den Jahren. Der Akt des Verschließens hat auf einmal etwas sehr Endgültiges, Greifbares. Viel weniger abstrakt als noch zuvor die Predigt in der Kapelle. Mir kommen die Tränen. In meinem Kopf das Lieblingslied meiner Nonna. Auf der Trompete möchte ich ihren letzten Wunsch erfüllen, doch fehlt mir die Kraft und der Atem. Ich versuche es trotzdem.
Rose Rosse per te
Ho comprato stasera
E il tuo cuore lo sa
Cosa voglio da te
Am Abend steht ein Teller für Nonna mit am Tisch. Wir haben eine gute Zeit in Gedenken an sie. Während ich diese letzten Zeilen in meiner Wohnung in Köln schreibe, fliegt plötzlich ein kleiner Vogel zur Balkontür herein und wieder heraus. Vielleicht eine Kohlmeise, vielleicht meine Nonna. Ich lege einige Samen vor die Tür. Non si sa mai. Was ist das Erbe meiner Nonna? Was ist geblieben?
Zurück im Alltag fragt mich mein Schüler Vincenzo, ob wir in der Projektwoche gemeinsam einen Pasta Workshop anbieten wollen. Dies lässt mein italienisch-deutsches Lehrerherz höherschlagen. Wahrscheinlich geht es schlussendlich nicht darum, woher wir alle kommen, sondern wie wir miteinander zusammenleben. Denn erst im gemeinsamen Sein kann etwas entstehen, dass sich Heimat nennt. Ein Kindheitsfreund von mir war damals in einem sozialen Netzwerk in einer Gruppe, die sich im Jargon der 2000er Mischlingskinder – das Beste aus zwei Welten nannte. Über diesen Satz habe ich noch Jahre später nachdenken müssen. Mittlerweile glaube ich, dass gerade wir, die dritte Generation, die Kraft haben können, Nevfel Cumarts ersehnte Brücke zu sein, eine Brücke zwischen all den Welten.
Mio caro amico, disse
Qui sono nato
In questa strada
Ora lascio il mio cuore
Ma come fai a non capire
È una fortuna, per voi che restate
A piedi nudi a giocare nei prati
Mentre là in centro io respiro il cemento
Ma verrà un giorno che ritornerò
Ancora qui*
*Adriano Celentano – Il ragazzo della via Gluck 1966