I: Warum müssen Gäste eigentlich arbeiten?
☱ Einige Personen stehen mit Schaufeln vor einem Schutthaufen, daneben eine Betonmischmaschine. Sie zeigen auf einen Rohbau und lachen. ☲ Die Familie sitzt im Auto und fährt nach Ginosa Marina, der Sandstrand ist kaum zu sehen vor lauter Sonnenschirmen. ☷ Akrobatik im Wasser, einige Handstände und Tretbootabenteuer. ☱ Es wird gefeiert, getanzt. Eine Melone geht herum und natürlich Café. La zia steht im Türrahmen und schaut zu. ☳Mein Onkel trinkt als kleiner Junge aus einem Brunnen. ☶ Eine Masseria, dort eine Katze, ein Hund, wieder Melone und ein Huhn. Nonna hebt die Melone über den Kopf. Alle essen. ☵ Heile Welt? Non lo so.
2020▸ Ginosa, Apulien: Es sind Sommerferien und ich schwitze im Haus meiner Großeltern in einem kleinen Ort in Süditalien. Die Hitze flimmert auf dem Flachdach und ich stöbere ein wenig durch die leeren Zimmer des Hauses. In einer staubigen Kiste, irgendwo zwischen vergoldetem Porzellan und selbstgemachter Passata, finde ich alte Super 8 Kassetten meines Nonno Nicola. Filmino del Mare steht seitlich auf der einen Hülle geschrieben, Urlaub 78 auf der anderen. Ein alter Projektor malt die längst vergessenen Bilder an die Wand. Ich kenne diese Orte. Sie lachen mich an aus einer nicht allzu fernen Vergangenheit. Vertraut und doch sehr fremd.
eintausendsiebenhundertvierundsiebzig Kilometer legte mein Nonno zurück, als er 1961 seine Heimat Apulien verließ und in eine ungewisse Zukunft aufbrach. Als Garten- und Landschaftsbauer in Solingen Ohlig half er beim Wiederaufbau des kriegszerstörten Deutschlands. Wenige Jahre später folgten meine Nonna, mein Papa und sein Bruder. Mein Nonno arbeitete zu dem Zeitpunkt bereits bei Ford in Köln. Wie viel Kraft ein solcher Schritt gekostet haben muss. Alles zurückzulassen, die Weiten Apuliens, il mare, la Gravina, la famiglia … und allen Unsicherheiten zum Trotz allein in ein fremdes Land zu gehen, um der Familie eine bessere Zukunft bieten zu können. Und dabei ist er nur einer von vielen, die diesen Schritt gewagt haben und wagen.
il sogno del nonno
neunzehnhundertfünfundsiebzig
ein haus und drei etagen
für jeden sohn
eine
die letzte unvollendet
Ich stehe noch immer in der leeren Wohnung. Der Projektor wirft Leben an die Wand. Ein anderes Leben. Die gleichen Fliesen, der gleiche Tisch, die gleiche Plastikblume, aber eine andere Zeit. Die leeren Zimmer sind voller Emotionen. Es sieht eigentlich alles aus wie heute, doch es wird gespeist, gelacht, getanzt. Meine Nonna grinst, sie ist glücklich - oder? Hinter ihr lächelt Padre Pio vor der beige-gekachelten Wand und ein barbäuchiger Onkel macht einen Witz. Alle lachen. Der Projektor geht aus. Die Bilder verschwinden. Ich blicke im abgedunkelten Raum umher. Durch die halbgeschlossenen Jalousien fällt ein Sonnenstrahl ins Dunkel. Ich flüchte die Treppe hinauf und stoße die schwere Metalltür auf. Grelles Licht und ein Schwall Mittagshitze fliegen mir entgegen. Ich stehe auf der Terrasse, eine Wäscheleine, eine Badewanne und einige Blumenkübel umspielen den Beton. Die dritte Etage unseres Hauses steht für den gescheiterten Plan meines Nonno, irgendwann mit seiner Familie nach Ginosa zurückzukehren. Jeder der drei Söhne sollte eine Etage bewohnen. Vielleicht hat er irgendwann realisiert, dass es keine Zukunft in Italien geben sollte. Vielleicht ist er gestorben, bevor das Haus fertiggestellt wurde.
voll hoffnung gekommen
ungewollt geblieben
und
nie wieder gegangen
1965▸ Nonna Lucia arbeitet als Reinigungskraft im Amt für Öffentliche Ordnung in der Herkulesstraße in Köln. Knapp 50 Jahre später unterrichte ich Deutsch für Geflüchtete im mittlerweile zu einer Notunterkunft umfunktionierten Gebäude. Ist das dann gelungene Integration? Ein Gedicht von Rosa Spitaleri aus dem Jahre 1991 beschreibt, wie es sich anfühlen muss, in der Fremde aufzuwachsen. Colonia / Stadt meiner Kindheit, / wo meine Erwartungen / jemand zu sein / sich nicht erfüllen, notiert sie. So, wie ihr, ging es vielen Kindern der ersten und zweiten Generation. Hin- und hergerissen zwischen dem Elternhaus und der Ausländerklasse hat mein Papa in seiner Jugend nicht die Möglichkeiten erfahren wirklich anzukommen. Mit acht Jahren zurückgelassen mit seinem kleinen Bruder in einem Internat in Italien, später dann nachgezogen - entwurzelt und nie wirklich neu eingepflanzt - war er mit seinen Träumen allein in einer Gesellschaft, die ihn am liebsten wieder zurückgeschickt hätte. Erst spät emanzipierte er sich aus eigener Kraft von einem System der Ungerechtigkeiten.
II: Zwischen Melonen und Roggendinkelvollkorn
1984▸ meine Eltern lernten sich kennen. Ich suche einen Mann, so sprach meine Mama meinen Papa in einer Kneipe in der Kölner Südstadt an. Und so sollte es sein. 1990 folgte ich, 1991 mein Bruder. Unsere Wohnung wurde schnell zu klein und wir zogen in ein Haus ins Umland. Plötzlich sahen wir uns konfrontiert mit einer ländlichen Lebensrealität. Für meinen Papa war dies sicherlich die zweite Entwurzelung, ein zweites Mal alles zurücklassen, ein zweites Mal neu beginnen. Doch diesmal ist er nicht allein. Meine Eltern gründen nun ihre eigene Familie, ein eigenes Nest, in dem wir weich gebettet aufwachsen sollten.
1997▸ endlose Sandstrände, duftende Pineta, Zikadenzirpen, Mare azzurro. Gesalzene Chips. Kindheitserinnerungen. Die Sommerurlaube im Süden Italiens waren immer die Highlights. In Erinnerung ist mir auch die Fahrt geblieben. Zweitausendkilometer gen Süden in unserem Auto. Während mein Bruder neben mir mit seinem Kissen auf der Kühlbox döst, betrachte ich ehrfürchtig die Berge, die sich vor den Fensterscheiben auftürmen wie Wesen aus einer anderen Welt. Im Tunnel halten wir alle die Luft an, dann plötzlich blauer Himmel und etwas später eine feine blaue Linie am Horizont. Da ist es – il mare! Irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit, halten wir in der Mittagshitze an einer Tankstelle irgendwo im Süden. Es ist unvorstellbar heiß, heiß wie ein Föhn, träge steige ich aus dem Auto, es riecht nach einer Mischung aus Oleander und Diesel und wir flüchten in das gekühlte Innenleben der Tankstelle. Noch viel später klappert unser Auto irgendwo über die Landstraße, am Fenster rauscht eine schroffe Landschaft entlang, gelegentlich eine Kaktusfeige, Olivenbäume oder Trulli. Dann überqueren wir endlich die Gravina, die mit Höhlen gespickte Schlucht in Ginosa, und unser Auto kommt quietschend vor dem kleinen Haus zum Halten. Meine Nonna kommt freudig die Treppe hinunter und breitet herzlich ihre Arme aus.
irgendwo zwischen
legosteinen, basilikum
und kakteen in einer
badewanne
goldene hügel
und ein blauer faden
zwischen
betonschluchten
zieren und gurpen
im lichtschein
der mondin
gelegentlich ein moped
ein gefühl zwischen
heimat und fremde
wassermelonen
und
roggendinkelvollkorn
Abends streunen wir mit einem Rudel italienischer Kinder und einem Fußball durch die Gassen Ginosas. Come ti chiami? Cosa significa? Quanti anni hai? Der Sinn dieser Wörter sollte sich mir jedoch erst Jahre später erschließen. Uns fehlten schlicht die Regeln, die dafür notwendig waren, diesen sprachlichen Code zu entschlüsseln. Deutsch hatten wir zu Hause gelernt, Italienisch nur bei einigen Besuchen des muttersprachlichen Unterrichts. Buongiorno Signora Rossi, so weit so gut, so viel war hängengeblieben. Plötzlich fühle ich mich nicht mehr so italienisch, wie noch vor wenigen Tagen in meiner deutschen Grundschule. Aber wenn ich in Deutschland irgendwie anders bin und mich in Italien niemand versteht, was bin ich dann eigentlich? Eine Frau, die aus einem Fenster an der Straße lehnte, fand dafür einfache Worte, die mir in Erinnerung bleiben sollten. In Deutschland bist du Deutscher, und in Italien bist du Italiener. Auch wenn ihr die Antwort auf diese Frage scheinbar leichtzufallen schien, sollte mich ebendiese doch noch viele Jahre beschäftigen. Es zog mich immer wieder in dieses Land, von dem ich stets Teil gewesen war, aber auf welches ich immer nur aus der Ferne einen Blick hatte erhaschen können. Für mich war Italien gleich einer neuen Welt, die es zu entdecken galt. Doch endlich am Ziel angekommen verspürte ich schnell eine Sehnsucht nach meiner Familie, meinen Freund:innen, meiner anderen Heimat. Mit jedem Schritt, den ich meinen Antworten näherkam, formten sich nur weitere Fragen am Horizont.
III: Gegen das Verschwinden
2022▸ Ein leichter Wind weht der Trauergesellschaft von der Gravina aus entgegen. Ungefähr dreißig Menschen haben sich an diesem Nachmittag auf dem kleinen Friedhof am Rande der großen Schlucht in Ginosa versammelt, um Abschied zu nehmen. Alle sind gekommen, mein Bruder, mein Papa und seine Geschwister, Tante Maria, Giuseppe aus Taranto und all die Verwandten, die ich bis dato nur aus Erzählungen kannte. All das, was meine Nonna war und immer noch ist, liegt jetzt in dieser kleinen schwarzen Vase vor mir. Irgendwie ist das alles unwirklich, schwer zu begreifen, abstrakt und dennoch ist es ein schöner Nachmittag. Ein Fach in der Mauer steht offen und die kleine schwarze Vase wird zu der Dose gestellt, in der die Gebeine meines Nonno bereits seit über dreißig Jahren aufbewahrt werden. Meinem Papa geht durch den Kopf, dass sich die beiden berühren müssen. Blechdose und Vase werden aneinandergerückt. Der Bestatter mischt ein wenig Mörtel an und die neue Platte mit den Namen meiner Großeltern wird vor die Nische geschoben. Der Akt des Verschließens hat auf einmal etwas sehr Endgültiges, Greifbares. Viel weniger abstrakt als noch zuvor die Predigt in der Kapelle. Mir kommen die Tränen. In meinem Kopf das Lieblingslied meiner Nonna. Auf der Trompete möchte ich ihren letzten Wunsch erfüllen, doch fehlt mir die Kraft und der Atem. Abends starre ich ins Leere. Ich öffne die Tür und rufe meinen Frust in die Nacht. Ich möchte meine Gedanken in Worte fassen. Ich möchte diese Geschichte von Mut, Tränen, Heimweh und neuen Horizonten aufschreiben.
Zurück im Alltag fragt mich mein Schüler Vincenzo, ob wir gemeinsam einen Pasta Workshop anbieten wollen. Dies lässt mein italienisch-deutsches Lehrerherz höherschlagen. Wahrscheinlich geht es schlussendlich nicht darum, woher wir alle kommen, sondern wie wir miteinander zusammenleben. Denn erst im gemeinsamen Sein kann etwas entstehen, dass sich Heimat nennt. Ein Kindheitsfreund von mir war damals in einem sozialen Netzwerk in einer Gruppe, die sich im Jargon der 2000er Mischlingskinder – das Beste aus zwei Welten nannte. Über diesen Satz habe ich noch Jahre später nachdenken müssen. Mittlerweile glaube ich, dass gerade wir, die dritte Generation, die Kraft haben können, Nevfel Cumarts ersehnte Brücke zu sein, eine Brücke zwischen all den Welten.
Qui sono nato
in questa strada
ora lascio il mio cuore [...]
Ma verrà un giorno che ritonerò
Ancora qui
*Adriano Celentano – Il ragazzo della via Gluck, 1966
I: Warum müssen Gäste eigentlich arbeiten?
☱ Einige Personen stehen mit Schaufeln vor einem Schutthaufen, daneben eine Betonmischmaschine. Sie zeigen auf einen Rohbau und lachen. ☲ Die Familie sitzt im Auto und fährt nach Ginosa Marina, der Sandstrand ist kaum zu sehen vor lauter Sonnenschirmen. ☷ Akrobatik im Wasser, einige Handstände und Tretbootabenteuer. ☱ Es wird gefeiert, getanzt. Eine Melone geht herum und natürlich Café. La zia steht im Türrahmen und schaut zu. ☳Mein Onkel trinkt als kleiner Junge aus einem Brunnen. ☶ Eine Masseria, dort eine Katze, ein Hund, wieder Melone und ein Huhn. Nonna hebt die Melone über den Kopf. Alle essen. ☵ Heile Welt? Non lo so.
2020▸ Ginosa, Apulien: Es sind Sommerferien und ich schwitze im Haus meiner Großeltern in einem kleinen Ort in Süditalien. Die Hitze flimmert auf dem Flachdach und ich stöbere ein wenig durch die leeren Zimmer des Hauses. In einer staubigen Kiste, irgendwo zwischen vergoldetem Porzellan und selbstgemachter Passata, finde ich alte Super 8 Kassetten meines Nonno Nicola. Filmino del Mare steht seitlich auf der einen Hülle geschrieben, Urlaub 78 auf der anderen. Ein alter Projektor malt die längst vergessenen Bilder an die Wand. Ich kenne diese Orte. Sie lachen mich an aus einer nicht allzu fernen Vergangenheit. Vertraut und doch sehr fremd.
eintausendsiebenhundertvierundsiebzig Kilometer legte mein Nonno zurück, als er 1961 seine Heimat Apulien verließ und in eine ungewisse Zukunft aufbrach. Als Garten- und Landschaftsbauer in Solingen Ohlig half er beim Wiederaufbau des kriegszerstörten Deutschlands. Wenige Jahre später folgten meine Nonna, mein Papa und sein Bruder. Mein Nonno arbeitete zu dem Zeitpunkt bereits bei Ford in Köln. Wie viel Kraft ein solcher Schritt gekostet haben muss. Alles zurückzulassen, die Weiten Apuliens, il mare, la Gravina, la famiglia … und allen Unsicherheiten zum Trotz allein in ein fremdes Land zu gehen, um der Familie eine bessere Zukunft bieten zu können. Und dabei ist er nur einer von vielen, die diesen Schritt gewagt haben und wagen.
il sogno del nonno
neunzehnhundertfünfundsiebzig
ein haus und drei etagen
für jeden sohn
eine
die letzte unvollendet
Ich stehe noch immer in der leeren Wohnung. Der Projektor wirft Leben an die Wand. Ein anderes Leben. Die gleichen Fliesen, der gleiche Tisch, die gleiche Plastikblume, aber eine andere Zeit. Die leeren Zimmer sind voller Emotionen. Es sieht eigentlich alles aus wie heute, doch es wird gespeist, gelacht, getanzt. Meine Nonna grinst, sie ist glücklich - oder? Hinter ihr lächelt Padre Pio vor der beige-gekachelten Wand und ein barbäuchiger Onkel macht einen Witz. Alle lachen. Der Projektor geht aus. Die Bilder verschwinden. Ich blicke im abgedunkelten Raum umher. Durch die halbgeschlossenen Jalousien fällt ein Sonnenstrahl ins Dunkel. Ich flüchte die Treppe hinauf und stoße die schwere Metalltür auf. Grelles Licht und ein Schwall Mittagshitze fliegen mir entgegen. Ich stehe auf der Terrasse, eine Wäscheleine, eine Badewanne und einige Blumenkübel umspielen den Beton. Die dritte Etage unseres Hauses steht für den gescheiterten Plan meines Nonno, irgendwann mit seiner Familie nach Ginosa zurückzukehren. Jeder der drei Söhne sollte eine Etage bewohnen. Vielleicht hat er irgendwann realisiert, dass es keine Zukunft in Italien geben sollte. Vielleicht ist er gestorben, bevor das Haus fertiggestellt wurde.
voll hoffnung gekommen
ungewollt geblieben
und
nie wieder gegangen
1965▸ Nonna Lucia arbeitet als Reinigungskraft im Amt für Öffentliche Ordnung in der Herkulesstraße in Köln. Knapp 50 Jahre später unterrichte ich Deutsch für Geflüchtete im mittlerweile zu einer Notunterkunft umfunktionierten Gebäude. Ist das dann gelungene Integration? Ein Gedicht von Rosa Spitaleri aus dem Jahre 1991 beschreibt, wie es sich anfühlen muss, in der Fremde aufzuwachsen. Colonia / Stadt meiner Kindheit, / wo meine Erwartungen / jemand zu sein / sich nicht erfüllen, notiert sie. So, wie ihr, ging es vielen Kindern der ersten und zweiten Generation. Hin- und hergerissen zwischen dem Elternhaus und der Ausländerklasse hat mein Papa in seiner Jugend nicht die Möglichkeiten erfahren wirklich anzukommen. Mit acht Jahren zurückgelassen mit seinem kleinen Bruder in einem Internat in Italien, später dann nachgezogen - entwurzelt und nie wirklich neu eingepflanzt - war er mit seinen Träumen allein in einer Gesellschaft, die ihn am liebsten wieder zurückgeschickt hätte. Erst spät emanzipierte er sich aus eigener Kraft von einem System der Ungerechtigkeiten.
II: Zwischen Melonen und Roggendinkelvollkorn
1984▸ meine Eltern lernten sich kennen. Ich suche einen Mann, so sprach meine Mama meinen Papa in einer Kneipe in der Kölner Südstadt an. Und so sollte es sein. 1990 folgte ich, 1991 mein Bruder. Unsere Wohnung wurde schnell zu klein und wir zogen in ein Haus ins Umland. Plötzlich sahen wir uns konfrontiert mit einer ländlichen Lebensrealität. Für meinen Papa war dies sicherlich die zweite Entwurzelung, ein zweites Mal alles zurücklassen, ein zweites Mal neu beginnen. Doch diesmal ist er nicht allein. Meine Eltern gründen nun ihre eigene Familie, ein eigenes Nest, in dem wir weich gebettet aufwachsen sollten.
1997▸ endlose Sandstrände, duftende Pineta, Zikadenzirpen, Mare azzurro. Gesalzene Chips. Kindheitserinnerungen. Die Sommerurlaube im Süden Italiens waren immer die Highlights. In Erinnerung ist mir auch die Fahrt geblieben. Zweitausendkilometer gen Süden in unserem Auto. Während mein Bruder neben mir mit seinem Kissen auf der Kühlbox döst, betrachte ich ehrfürchtig die Berge, die sich vor den Fensterscheiben auftürmen wie Wesen aus einer anderen Welt. Im Tunnel halten wir alle die Luft an, dann plötzlich blauer Himmel und etwas später eine feine blaue Linie am Horizont. Da ist es – il mare! Irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit, halten wir in der Mittagshitze an einer Tankstelle irgendwo im Süden. Es ist unvorstellbar heiß, heiß wie ein Föhn, träge steige ich aus dem Auto, es riecht nach einer Mischung aus Oleander und Diesel und wir flüchten in das gekühlte Innenleben der Tankstelle. Noch viel später klappert unser Auto irgendwo über die Landstraße, am Fenster rauscht eine schroffe Landschaft entlang, gelegentlich eine Kaktusfeige, Olivenbäume oder Trulli. Dann überqueren wir endlich die Gravina, die mit Höhlen gespickte Schlucht in Ginosa, und unser Auto kommt quietschend vor dem kleinen Haus zum Halten. Meine Nonna kommt freudig die Treppe hinunter und breitet herzlich ihre Arme aus.
irgendwo zwischen
legosteinen, basilikum
und kakteen in einer
badewanne
goldene hügel
und ein blauer faden
zwischen
betonschluchten
zieren und gurpen
im lichtschein
der mondin
gelegentlich ein moped
ein gefühl zwischen
heimat und fremde
wassermelonen
und
roggendinkelvollkorn
Abends streunen wir mit einem Rudel italienischer Kinder und einem Fußball durch die Gassen Ginosas. Come ti chiami? Cosa significa? Quanti anni hai? Der Sinn dieser Wörter sollte sich mir jedoch erst Jahre später erschließen. Uns fehlten schlicht die Regeln, die dafür notwendig waren, diesen sprachlichen Code zu entschlüsseln. Deutsch hatten wir zu Hause gelernt, Italienisch nur bei einigen Besuchen des muttersprachlichen Unterrichts. Buongiorno Signora Rossi, so weit so gut, so viel war hängengeblieben. Plötzlich fühle ich mich nicht mehr so italienisch, wie noch vor wenigen Tagen in meiner deutschen Grundschule. Aber wenn ich in Deutschland irgendwie anders bin und mich in Italien niemand versteht, was bin ich dann eigentlich? Eine Frau, die aus einem Fenster an der Straße lehnte, fand dafür einfache Worte, die mir in Erinnerung bleiben sollten. In Deutschland bist du Deutscher, und in Italien bist du Italiener. Auch wenn ihr die Antwort auf diese Frage scheinbar leichtzufallen schien, sollte mich ebendiese doch noch viele Jahre beschäftigen. Es zog mich immer wieder in dieses Land, von dem ich stets Teil gewesen war, aber auf welches ich immer nur aus der Ferne einen Blick hatte erhaschen können. Für mich war Italien gleich einer neuen Welt, die es zu entdecken galt. Doch endlich am Ziel angekommen verspürte ich schnell eine Sehnsucht nach meiner Familie, meinen Freund:innen, meiner anderen Heimat. Mit jedem Schritt, den ich meinen Antworten näherkam, formten sich nur weitere Fragen am Horizont.
III: Gegen das Verschwinden
2022▸ Ein leichter Wind weht der Trauergesellschaft von der Gravina aus entgegen. Ungefähr dreißig Menschen haben sich an diesem Nachmittag auf dem kleinen Friedhof am Rande der großen Schlucht in Ginosa versammelt, um Abschied zu nehmen. Alle sind gekommen, mein Bruder, mein Papa und seine Geschwister, Tante Maria, Giuseppe aus Taranto und all die Verwandten, die ich bis dato nur aus Erzählungen kannte. All das, was meine Nonna war und immer noch ist, liegt jetzt in dieser kleinen schwarzen Vase vor mir. Irgendwie ist das alles unwirklich, schwer zu begreifen, abstrakt und dennoch ist es ein schöner Nachmittag. Ein Fach in der Mauer steht offen und die kleine schwarze Vase wird zu der Dose gestellt, in der die Gebeine meines Nonno bereits seit über dreißig Jahren aufbewahrt werden. Meinem Papa geht durch den Kopf, dass sich die beiden berühren müssen. Blechdose und Vase werden aneinandergerückt. Der Bestatter mischt ein wenig Mörtel an und die neue Platte mit den Namen meiner Großeltern wird vor die Nische geschoben. Der Akt des Verschließens hat auf einmal etwas sehr Endgültiges, Greifbares. Viel weniger abstrakt als noch zuvor die Predigt in der Kapelle. Mir kommen die Tränen. In meinem Kopf das Lieblingslied meiner Nonna. Auf der Trompete möchte ich ihren letzten Wunsch erfüllen, doch fehlt mir die Kraft und der Atem. Abends starre ich ins Leere. Ich öffne die Tür und rufe meinen Frust in die Nacht. Ich möchte meine Gedanken in Worte fassen. Ich möchte diese Geschichte von Mut, Tränen, Heimweh und neuen Horizonten aufschreiben.
Zurück im Alltag fragt mich mein Schüler Vincenzo, ob wir gemeinsam einen Pasta Workshop anbieten wollen. Dies lässt mein italienisch-deutsches Lehrerherz höherschlagen. Wahrscheinlich geht es schlussendlich nicht darum, woher wir alle kommen, sondern wie wir miteinander zusammenleben. Denn erst im gemeinsamen Sein kann etwas entstehen, dass sich Heimat nennt. Ein Kindheitsfreund von mir war damals in einem sozialen Netzwerk in einer Gruppe, die sich im Jargon der 2000er Mischlingskinder – das Beste aus zwei Welten nannte. Über diesen Satz habe ich noch Jahre später nachdenken müssen. Mittlerweile glaube ich, dass gerade wir, die dritte Generation, die Kraft haben können, Nevfel Cumarts ersehnte Brücke zu sein, eine Brücke zwischen all den Welten.
Qui sono nato
in questa strada
ora lascio il mio cuore [...]
Ma verrà un giorno che ritonerò
Ancora qui
*Adriano Celentano – Il ragazzo della via Gluck, 1966